
Eigentümerwechsel und Sanierung 1993 bis 1995
Mit der Öffnung der Mauer war klar abzusehen, dass die Tage der Kreuzberger Idylle gezählt sind. Kreuzberg 36 ist wieder nahe an das Stadtzentrum gerückt und der Autoverkehr in der Oranienstraße und der Nachbarschaft nahm unangenehm zu. Das soziale Klima wurde von Jahr zu Jahr abgekühlter. Immer mehr Häuser um die Oranienstraße 169 herum wurden saniert. Die Vertreibung aus dem Paradies schien nur noch eine Frage der Zeit.
So war es auch keine Überraschung, dass sich in der Oranienstraße 169 neue Eigentümer meldeten. Zu meinem Erstaunen waren mir die Namen der Eigentümer als TAZ-Leser bekannt, es waren leitende Redakteur/innen der TAZ.
Nach dem Besitzerwechsel wurde das Haus nicht mehr so gut gepflegt, auf dem Dachboden kampierten Junkies und machten dort offenes Feuer, es gab eine Rattenplage. Die Miete war immer noch sehr günstig, inzwischen 440 DM kalt.
Die neuen Besitzer waren freundlich, aber auch erkennbar um Distanz bemüht. Die Kommunikation mit den Mietern haben die Eigentümer nicht selbst gemacht, sondern an eine halbstaatliche Sanierungsbetreuungsagentur delegiert. Die Mitarbeiter dieser Agentur waren ausgesprochen hilfsbereit.
Ich bekam dann ein Schreiben von den Eigentümern, dass man, begründet durch die Kalkulation der Sanierungskosten, meine Miete nach der Sanierung von 440 DM auf 1200 DM, also auf ungefähr das Dreifache, anheben werde. Ich sollte dazu mein Einverständnis erklären. Das empfand ich als schockierend, als kompletten Widerspruch zu dem, was die TAZ immer propagiert und von Anderen gefordert hat. Ich wollte der Sache dann nachgehen und habe mehrfach um Einsicht in die Kalkulation gebeten, bevor ich da unterschreibe. Dieses Ansinnen wurde aber ignoriert (auch wenn die TAZ sonst immer engagiert für Informations-Offenheit und Transparenz bei Anderen eingetreten ist).
Schließlich hat man mir von Seiten der Agentur eine wirklich schöne, aus meiner Sicht sogar noch bessere, Wohnung als Umsetz-Wohnung angeboten, ein Angebot zu dem man nicht „nein“ sagen konnte. Ich bin dann nicht mehr in die Oranienstraße 169 zurückgekehrt und habe das Haus aus den Augen verloren.
Ich habe jetzt im Zuge der aktuellen Entwicklungen 2023 gelesen, dass die Sanierung der Oranienstraße 169 gegenüber den staatlichen Fördermittelgebern als Selbsthilfeprojekt mit dem Ziel der Beteiligung der Bestandsmieter dargestellt wurde. Ich habe das als Mieter aber nicht so erlebt, und zu dieser Zeit von den zu einer derartigen Förderung gehörenden Mitwirkungsmöglichkeiten als Mieter keinerlei Informationen bekommen.
Aus meiner Sicht haben sich die neuen Eigentümer von „normalen“ Eigentümern eigentlich nicht unterschieden, es gab nach meiner Erinnerung nur die Alternative „dreimal so viel zahlen oder gehen“.
Die wirklich zuvorkommende Hilfestellung von der Sanierungsagentur bezüglich der Umsetzung stand ja nach meiner Kenntnis von Staats wegen allen sanierungsbetroffenen Mietern unabhängig von den Eigentümern zur Verfügung.
Schade finde ich auch, dass die Sanierung den typischen Charakter des Hauses zerstört hat, so wurden etwa die noch intakten Kastenfenster herausgerissen und durch moderne, nicht wirklich zur klassizistischen Fassade passende Fenster ersetzt. Die frühere pastellfarbene Bemalung der Fassade, die die Struktur der Fassade gut sichtbar gemacht hatte wurde durch einen für meinen Geschmack zu aufdringlichen Weißton überdeckt. Ich finde, das einst Geschichte vermittelnde, inspirierend wirkende Haus sieht jetzt allerweltsmäßig, langweilig und belanglos aus.
Die Geschichte des Hauses ist überdeckt und unsichtbar geworden. Es ist traurig, dass da ein schönes, unverwechselbares Stück Stadtbild verloren gegangen ist. Und das durch Eigentümer, denen ich eigentlich einen ganz anderen Anspruch zugeschrieben hätte. Da ist eine große Chance verpasst worden.
[Nach der Veröffentlichung im SPIEGEL im Januar 2023 meldete sich ein ehemaliger Hausbewohner aus der Oranienstraße 169 bei uns. Er hatte, wie er es ausdrückt, wichtige zehn Jahre seines Lebens in der Oranienstraße verbracht. Der ausführliche Artikel rief bei ihm diese bewegende Zeit in Erinnerung und hat ihn dazu bewogen, einiges aus dieser Zeit für uns aufzuschreiben. Diese Episode ist Teil seines "Zeitzeugenberichts" zur Oranienstraße 169 zwischen 1985 und 1995. Für die Inhalte der Beiträge sind allein die Verfasser verantwortlich. Die Beiträge geben nicht die Meinung der Redaktion der Website ora169.de wieder.]