Die Wohnung und das Umfeld in den 1980ern

Meine Wohnung im Vorderhaus der Oranienstraße 169 war für mich dann die Traumwohnung in genau der Straße, in der ich schon immer wohnen wollte. Die Wohnung war groß und geräumig.

Besonders bemerkenswert waren die reich verzierten Kachelöfen, der Ofen im Wohnzimmer war fast 4m hoch und mit einer üppigen Krone verziert. Diese Öfen sahen nicht nur schön aus, sie haben auch eine sehr gemütliche und angenehme Strahlungswärme verbreitet. Auch in dem richtig kalten Winter 1986/87 bei zweistelligen Minusgraden über mehrere Wochen am Stück war es in der Wohnung sehr angenehm.

Ein besonderes Extra war das Vorhandensein eines Kohlenraums, direkt neben der Wohnungstüre. Dieser Raum konnte eine halbe Tonne Briketts fassen. Im Herbst kamen dann die Kohlenträger und haben mit einer unglaublichen Geschicklichkeit und Ausdauer die Kohlen in kürzester Zeit in die Wohnung hochgebracht.

Ich habe mir dann noch eine Duschkabine in der Küche eingebaut und in die Rahmen der einfach verglasten Fenster nach hinten raus auf Maß angefertigtes Isolierglas eingebaut. Damit war die Wohnung absolut perfekt. Natürlich muss man jetzt einräumen, dass das Heizen mit Braunkohlebriketts heute aus Klimaschutzgründen nicht mehr akzeptabel ist, aber zu dieser Zeit gab es noch kein Bewusstsein über den Klimawandel und es konnte sich auch niemand vorstellen, wie sauber die Luft in Berlin im Winter eigentlich sein könnte. (Ein heutiger ganz normaler Wintertag wäre in den 80-ern ein sensationeller Reinlufttag gewesen, solche Tage konnte man an den Fingern einer Hand abzählen, meist war Berlin fest im Würgegriff des grünlich-grauen Smogs, es gab Tage, da konnte man nicht mal 100m weit sehen, ich musste einmal an einem Smog-Tag in Kreuzberg ca. 1km rennen, um noch zu einem wichtige Termin zu kommen, danach musste ich mich erst einmal übergeben. Da haben wir einen massiven Fortschritt, so wie es jetzt ist und darüber können wir sehr froh sein).

Faszinierend war, dass das Haus Oranienstraße 169 zu 100% aus historischer Bausubstanz bestand, da ist seit dem zweiten Weltkrieg nichts verändert worden. Hierdurch entstand eine einzigartige Atmosphäre, die leider durch die aus meiner Sicht unsensible Sanierung in den 90-er Jahren komplett zerstört wurde. Die langjährige Geschichte des Ortes mit allen Höhen und Tiefen war in jedem Moment spürbar. In dem Haus waren viele sehr schöne, verzierte Bauteile wie Flügeltüren und Kastenfenster. Die Häuser der Nachbarschaft waren, bis auf wenige Ausnahmen, auch noch vollkommen im Originalzustand. Man hatte das Gefühl, dass um einen herum tausende von Details die Spuren einer über hundertjährigen Geschichte vermittelten. Jeden Tag habe ich um mich herum neue, interessante Details und Spuren entdeckt.

Hintergrund: Die Oranienstraße sollte nach Plänen aus den 60-er/70-er Jahren komplett abgerissen werden, um einem Autobahnzubringer zu weichen, mit Kleeblattkreuzung auf dem Oranienplatz. Daher wurden an den Häusern keine Investitionen und damit keine Veränderungen mehr vorgenommen.

Das Gebiet nördlich des Oranienplatzes und der angrenzende Bereich der Oranienstraße war das einzige erhaltene Stück des alten Berliner Stadtzentrums, das im Westteil Berlins lag. Dadurch gab es dort einerseits sehr alte Häuser, (aus den 1860-er Jahren) die sich mit sehr herrschaftlichen Häusern aus der Gründerzeit abwechseln. Mit dieser Architektur-Zusammensetzung war die Oranienstraße eine ganz andere Straße als die meisten sonstigen Kiez-Straßen mit recht einheitlicher Bebauung. Zum damaligen Zeitpunkt war diese Geschichte noch direkt sichtbar und spürbar, es war aufregend und interessant, da mitten drin zu leben und immer wieder Neues zu entdecken und sich einfach im Alltag an der Schönheit der einen umgebenden Formen zu freuen.

Gleichzeitig war die Gegend durch die Mauer von ihrem ursprünglichen Einzugsbereich, der Stadtmitte von drei Seiten her abgetrennt. Damit war es, für heutige Verhältnisse fast unvorstellbar, sehr ruhig. Teilweise gab es Orte, speziell Höfe, in denen eine geradezu dörfliche Romantik anzutreffen war.

Ein Beispiel: Im Nachbarhaus, Oranienstraße 168, stand im Hof ein alter Pferdestall. Dieser hatte ein recht niedriges Dachgeschoss, das von der Wohnung vorne im ersten Stock der Oranienstraße 168 aus über einen gedeckten Gang zu erreichen war. Dieses Dachgeschoss gehörte zu dieser Wohnung und diente meinem Nachbarn, einem Schriftsteller im Sommer als inspirierendes Arbeitszimmer. (Leider wurde dieses eindrucksvolle Hofgebäude in den 90-er Jahren abgerissen)

[Nach der Veröffentlichung im SPIEGEL im Januar 2023 meldete sich ein ehemaliger Hausbewohner aus der Oranienstraße 169 bei uns. Er hatte, wie er es ausdrückt, wichtige zehn Jahre seines Lebens in der Oranienstraße verbracht. Der ausführliche Artikel rief bei ihm diese bewegende Zeit in Erinnerung und hat ihn dazu bewogen, einiges aus dieser Zeit für uns aufzuschreiben. Diese Episode ist Teil seines "Zeitzeugenberichts" zur Oranienstraße 169 zwischen 1985 und 1995. Für die Inhalte der Beiträge sind allein die Verfasser verantwortlich. Die Beiträge geben nicht die Meinung der Redaktion der Website ora169.de wieder.]