Zeitzeugenberichte
Wer eine persönliche Geschichte über das Mietshaus in der Oranienstraße 169 in Berlin Kreuzberg erzählen, und diese der Öffentlichkeit zugänglich machen möchte, kann uns den Beitrag gerne zusammen mit Bildmaterial per Mail an zeitzeuge@ora169.de senden.
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Ein Jahrzehnt in der Oranienstraße
Nach der Veröffentlichung des SPIEGEL Artikels im Januar 2023 meldete sich ein ehemaliger Hausbewohner aus der Oranienstraße 169 bei uns.
Er hatte, wie er es ausdrückt, wichtige zehn Jahre seines Lebens in der Oranienstraße verbracht. Der Artikel rief bei ihm diese bewegende Zeit in Erinnerung und hat ihn dazu bewogen, einiges aus dieser Zeit für uns aufzuschreiben.
Hier in sechs Episoden sein "Zeitzeugenbericht" zur Oranienstraße 169 zwischen 1985 und 1995. Auch die veröffentlichten Fotos stammen vom selben Autor.
Episode "Wohnungssuche 1985"
In den 80-ern war der übliche Weg, eine Wohnung zu suchen und hoffentlich dann auch zu finden, am Sonntag die Anzeigen in der Berliner Morgenpost durchzugehen. Ich hatte dabei die Anzeige für meine spätere Wohnung in der Oranienstraße 169 unter den hunderten von Anzeigen übersehen. Am späten Nachmittag meinte meine damalige Mitbewohnerin unserer in Auflösung befindlichen WG: „Schau mal die tolle Anzeige da, das ist doch zu schön um wahr zu sein, hast Du da schon angerufen?“
Episode "Die Wohnung und das Umfeld"
Meine Wohnung im Vorderhaus der Oranienstraße 169 war für mich dann die Traumwohnung in genau der Straße, in der ich schon immer wohnen wollte. Die Wohnung war groß und geräumig.
Besonders bemerkenswert waren die reich verzierten Kachelöfen, der Ofen im Wohnzimmer war fast 4m hoch und mit einer üppigen Krone verziert. Diese Öfen sahen nicht nur schön aus, sie haben auch eine sehr gemütliche und angenehme Strahlungswärme verbreitet.
Episode "Der 1. Mai 1987"
Als Bewohner der Oranienstraße 169 konnte man sich den Ereignissen am 1. Mai 1987 nicht entziehen. Im Rückblick war der 1. Mai 1987 der Anfang vom Ende der Kreuzberger Idylle.
In der Folge der Zerstörungen setzte eine Wegzugs-Welle aus Kreuzberg 36 ein, bei der insbesondere engagierte und stabilisierende Menschen die Gegend verließen. In der Folge ging dann die bisherige soziale Verbindlichkeit zurück, das Klima wurde rauer.
Am Abend des 1.Mai 1987 begannen die Ereignisse eher scheinbar spielerisch: Auch ich war auf dem Fest am Lausitzer Platz und bin dann aber, nachdem die Scharmützel zunahmen, nach Hause gegangen. Wir waren dann in größerer Runde in meiner Wohnung. Wir hatten die Fenster zur Straße hin offen.
Eine Gruppe Punks brach dann den Real-Supermarkt im Eckhaus gegenüber auf.
Episode "Der 9. November 1989"
Da es 1989 noch keine Handys gab, verbreiteten sich Nachrichten weit langsamer als heute.
Am 9. November 1989 bin ich nach der Arbeit noch ins Casino in der Reichenberger Straße gegangen, um etwas zu Abend zu essen. Es war ein ganz normaler Abend, NIEMAND von den zahlreichen Gästen wusste, dass wenige Kilometer nordöstlich gerade die Mauer aufgegangen ist.
Gegen 2 Uhr nachts klingelt es dann bei mir an der Türe. Vor der Türe steht ein unzweifelhaft (an der Kleidung und der Frisur und am Dialekt erkennbar) aus dem Osten kommender Mann, vielleicht Ende 20, recht betrunken.
Episode "Jahresanfang 1990"
In unmittelbarer Nachbarschaft der Oranienstraße 169 wurde Anfang 1990 der Abbau der Betonteile der Mauer begonnen.
Ich hatte das Glück an einem Winterabend, zufällig das Herausheben des ersten Stückes mitzuerleben. Auf der West-Seite stand eine Menschentraube, darunter viele Punks.
Als das Mauerstück herausgehoben wurde, wurden die auf der Ost-Seite stehenden Grenzer sichtbar, etwa im gleichen Alter wie die Punks und extrem entspannt und in guter Stimmung.
Episode "Eigentümerwechsel und Sanierung"
Mit der Öffnung der Mauer war klar abzusehen, dass die Tage der Kreuzberger Idylle gezählt sind. Kreuzberg 36 ist wieder nahe an das Stadtzentrum gerückt und der Autoverkehr in der Oranienstraße und der Nachbarschaft nahm unangenehm zu.
Das soziale Klima wurde von Jahr zu Jahr abgekühlter. Immer mehr Häuser um die Oranienstraße 169 herum wurden saniert. Die Vertreibung aus dem Paradies schien nur noch eine Frage der Zeit.
So war es auch keine Überraschung, dass sich in der Oranienstraße 169 neue Eigentümer meldeten.