Der 1. Mai 1987

Als Bewohner der Oranienstraße 169 konnte man sich den Ereignissen am 1.Mai 1987 nicht entziehen. Im Rückblick war der 1. Mai 1987 der Anfang vom Ende der Kreuzberger Idylle. In der Folge der Zerstörungen setzte eine Wegzugs-Welle aus Kreuzberg 36 ein, bei der insbesondere engagierte und stabilisierende Menschen die Gegend verließen. In der Folge ging dann auch die bisherige soziale Verbindlichkeit zurück, das Klima wurde rauer.

Am Abend des 1.Mai 1987 begannen die Ereignisse eher scheinbar spielerisch: Auch ich war auf dem Fest am Lausitzer Platz und bin dann aber, nachdem die Scharmützel zunahmen, nach Hause gegangen. Wir waren dann in größerer Runde in meiner Wohnung. Wir hatten die Fenster zur Straße hin offen.

Eine Gruppe Punks brach dann den Real-Supermarkt im Eckhaus gegenüber auf. Sie machten sich einen Spaß daraus, Schokoriegel durch die geöffneten Fenster in die Wohnungen zu schmeißen, so flogen auch in meiner Wohnung die Schokoriegel durch die offenen Fenster an die Wände. Die Polizei hatte Kreuzberg 36 verlassen.

Dann begann die Sache aber immer mehr eine beängstigende Dimension anzunehmen: Es wurden Barrikaden gebaut und auf einer der Barrikaden wurde dann, absolut filmreif, ein Auto in Brand gesetzt, die Sache geriet außer Kontrolle und die Flammen kamen den Fenstern der Wohnungen des Hauses neben der Barrikade bedrohlich nahe. Die Feuerwehr hätte da wahrscheinlich nicht mehr hin vordringen können und es hätte Verletzte und Tote geben können.

Auch die fröhliche Stimmung der Punks im Real-Markt war schnell vorbei. Nach etwa 20 Minuten fuhren VW-Busse vor, aus denen stämmige Kerle ausstiegen und den Punks unmissverständlich klarmachten, dass sie verschwinden sollen, damit sie dann ungestört die wertvolleren Waren aus dem Supermarkt in Ihre VW-Busse räumen können. Als nächstes machten sich dann ähnliche Gruppen dran, zu versuchen mit System weitere, auch kleinere, Geschäfte aufzubrechen, um die Waren in ihren Kleinbussen abzutransportieren.

Das war ein sehr, sehr trauriges und desillusionierendes Erlebnis. Nach dem ich als Anfangs-Zwanziger noch mit vollster Überzeugung mit ungebrochenem Sendungsbewusstsein für die Anarchie als einzig akzeptable Staatsform argumentiert habe, musste ich nun bei empirischer Beobachtung feststellen, dass der befreiende Zauber der Anarchie gerade mal 20 Minuten hält. 20 Minuten nach dem Rückzug der Polizei hatte sich bereits eine neue Herrschaftsform zu formieren begonnen, mit mindestens der gleichen Ruppigkeit, wie sie zur damaligen Zeit bei der Polizei zu beobachten war. Ehrlich gesagt, ich war dann erleichtert, als gegen 5 Uhr morgens die Polizei dann wieder das Terrain übernommen hat. So einen Gedanken zu haben war mir zuvor vollkommen fremd.

Am nächsten Morgen habe ich dann die Zerstörungen und ausgebrannten Autowracks in der Nachbarschaft gesehen, habe gehört dass der Übergriff eines Brandes auf ein Wohnhaus durch die Bewohner selbst gerade noch verhindert werden konnte, und war sehr, sehr deprimiert, dass unser eigener Lebensraum von Leuten, mit denen ich bis dahin eher Sympathie empfunden hatte, derart zerstört wurde.

Für mich persönlich war dieser Tag ein ganz bitteres Erwachen und ein Abschied von vielen Illusionen, die zuvor ein zentraler Bestandteil meines Lebens waren.

[Nach der Veröffentlichung im SPIEGEL im Januar 2023 meldete sich ein ehemaliger Hausbewohner aus der Oranienstraße 169 bei uns. Er hatte, wie er es ausdrückt, wichtige zehn Jahre seines Lebens in der Oranienstraße verbracht. Der ausführliche Artikel rief bei ihm diese bewegende Zeit in Erinnerung und hat ihn dazu bewogen, einiges aus dieser Zeit für uns aufzuschreiben. Diese Episode ist Teil seines "Zeitzeugenberichts" zur Oranienstraße 169 zwischen 1985 und 1995. Für die Inhalte der Beiträge sind allein die Verfasser verantwortlich. Die Beiträge geben nicht die Meinung der Redaktion der Website ora169.de wieder.]