Der 9. November 1989

Da es 1989 noch keine Handys gab, verbreiteten sich Nachrichten weit langsamer als heute.

Am 9. November 1989 bin ich nach der Arbeit noch ins Casino in der Reichenberger Straße gegangen, um etwas zu Abend zu essen. Es war ein ganz normaler Abend, NIEMAND von den zahlreichen Gästen wusste, dass wenige Kilometer nordöstlich gerade die Mauer aufgegangen ist.

Gegen 2 Uhr nachts klingelt es dann bei mir an der Türe. Vor der Türe steht ein unzweifelhaft (an der Kleidung und der Frisur und am Dialekt erkennbar) aus dem Osten kommender Mann, vielleicht Ende 20, recht betrunken.

Er sagt, er sei gerade aus dem Osten gekommen, die Mauer sei offen und die Oranienstraße 169 sieht als unrenoviertes Haus ja genau so aus wie es bei ihm zuhause im Osten aussieht, also hat er jetzt einfach mal geklingelt und würde gerne von mir ein Bier ausgeschenkt bekommen.

Ich konnte das nicht einordnen, ich dachte, er ist als Flüchtling über die Mauer gekommen und habe ihm dann 20 DM in die Hand gedrückt, damit er etwas essen gehen kann. Dann bin ich sofort wieder eingeschlafen.

Am Morgen wache ich auf, weil von der Straße ein unbekanntes Geräusch, eine Art Murmeln, kommt. Ich gehe zum Fenster und sehe, dass die ganze Straße von einer dicht gedrängten Menschenmasse erfüllt ist, alle, sofort erkennbar, aus dem Osten. Erst in diesem Moment fällt mir der nächtliche Besucher wieder ein. Ich mache mich so schnell wie möglich fertig, gehe auf die Straße und frage die Menschen, was denn da passiert ist.

Sie sagten, alle übereinstimmend, dass die Mauer geöffnet wurde, aber nur einmalig, gleich nachher, um 9 Uhr morgens, würde die Mauer dann wieder zugemacht. Wer dann noch im Westen sei, könne nicht mehr zurück. Sie sagten, dass die sich jetzt ein wenig West-Berlin ansehen wollten, aber vor der Schließung um 9 Uhr wieder zurück wollten, um dann zur Arbeit oder nach Hause gehen wollten.

Ich habe dann ein paar Umstehende zu einem Frühstück in einem türkischen Imbiss eingeladen, wir unterhielten uns und waren uns in unserem ungläubigen Staunen einig. Niemand von uns hat in diesem Moment die tatsächliche Bedeutung des gerade stattfindenden Ereignisses erkannt.

[Nach der Veröffentlichung im SPIEGEL im Januar 2023 meldete sich ein ehemaliger Hausbewohner aus der Oranienstraße 169 bei uns. Er hatte, wie er es ausdrückt, wichtige zehn Jahre seines Lebens in der Oranienstraße verbracht. Der ausführliche Artikel rief bei ihm diese bewegende Zeit in Erinnerung und hat ihn dazu bewogen, einiges aus dieser Zeit für uns aufzuschreiben. Diese Episode ist Teil seines "Zeitzeugenberichts" zur Oranienstraße 169 zwischen 1985 und 1995. Für die Inhalte der Beiträge sind allein die Verfasser verantwortlich. Die Beiträge geben nicht die Meinung der Redaktion der Website ora169.de wieder.]